KUNST- UND SOZIALGESCHICHTEN - Galerie Lendl, Graz steirischer herbst ´95 Bildgalerie


Zum Thema des steirischen herbstes `95 präsentiert die Galerie Eugen Lendl den Steierer Günther Pedrotti mit einer Personale. Von „Kunst- und Moralgeschichten“ handeln die Arbeiten des jungen Künstlers. Er rezipiert die Kunstgeschichte in Ausschnitten von Dürer bis Troger, von international bis lokal, von der Renaissance bis zur zeitgenössischen Moderne. Teile bekannter Werke werden herausgezoomt, bis hin zu Partikeln, wie unter einem Vergrößerungsglas, betrachtet. Auch die Interpretier- und Untersuchungsfreude so manchen Kunstkritikers und Kunsthistorikers wird angesprochen.
Ebenso wird in manchen Arbeiten der soziale Diskurs der letzten Jahre durch die Verwendung von Latex aufgegriffen und somit bewusst in einen kunstgeschichtlichen Kontext gebracht. Meist wird das Latex als „Haut“ gegossen um Öffnungen, unterstützt durch Wortspiele, zu assoziieren.
Programm steierischer herbst`95


"Kunst- und Sozialgeschichten" ist ein Titel, der auf Erzähltechniken verweist, die ohne Geschichten auskommen. Solche Erzählungen sind nur möglich, indem man entweder das Erzählen verweigert oder das thematisiert, was vor dem Erzählen liegt, die Wahrnehmung, ohne die es keine Erzählung gibt. Wahrnehmung ist in erster Linie eine visuelle Tätigkeit. Der Akt des Sehens ist ein Akt des Aufladens von Oberflächen mit Bedeutung. Deshalb bestimmen die Sehweisen - also die Möglichkeiten, etwas mit irgendeiner Bedeutung aufzulanden - die Möglichkeiten des Erzählens. Die Sehweisen selber gehorchen verschiedensten biologischen, neuronalen und soziologisch, kulturell determinierten Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten. Diese treten jedoch erst in Kraft, wenn es für den Akt des Sehens eine Oberfläche gibt, die die Möglichkeit einer Erzählung benötigt. Diese Möglichkeiten bestimmen unsere visuelle Kultur. Sie sind Zivilisation. Kunst- und Sozialgeschichten sind also eigentlich Zivilisationsgeschichten.

Günther Pedrotti scheint das zu wissen. Denn er weiß um die Bedeutung der Oberfläche für das Erzählen. Seine Arbeiten verweisen allererst einmal darauf. Ob es sich um die Logos handelt, die bei den Latexarbeiten ("Ballone", "Drachen") ironisch auf die heutige Signifikantenkultur rekurrieren, bei der die relative Austauschbarkeit von Bedeutungszuschreibungen und den Zusammenhängen von Signifikat und Signifikanten sprachliche Zeichen zu visuellen mutieren lässt und diese wiederum durch ihre freie Flotation in eine Position des Wartens bringt. Des Wartens auf die Zuordnung zu und mit sprachlichen Bedeutungszusammenhängen. Die Zeichen können sowohl Markenzeichen einer imaginären Kondomfirma sein als auch Werbelogos eines Fremdenverkehrsmagazins für europäische Hauptstädte. Sie können sowohl Zeichen sein, die die Problematik von Aids ansprechen, als auch Namen eines Kunstwerks, das die frei flottierenden Signifikanten innerhalb des werbetechnischen Zusammenhangs eines Verkehrs- und Geschäftskonglomerats einer Stadt thematisieren. Die Bedeutung der Oberfläche wird aber auch bei den "Untertassen"-Arbeiten beleuchtet.

Diese gehen auf Arbeiten mit dem Kopierer zurück. Eine Kopie symbolisiert quasi die Archivierung einer Oberfläche durch das Erzeugen eines Doppelgängers. Wenn, wie bei Pedrottis Arbeiten, der Kopiervorgang durch ein Bewegen der Vorlage der Faktor Zeit mitverwendet wird, handelt es sich um ein Ausdehnen des Augenblicks und damit der Oberfläche, die für den Akt des Sehens nötig ist und ihn bestimmt. Auch die Arbeiten, die sich explizit auf den Kunstkontext beziehen, beziehen sich genaugenommen auf die Thematisierung von Möglichkeiten zur Oberflächenbehandlung. Ob, wie bei einigen plastischen Arbeiten Gustav Trogers, die Oberfläche durch Löcher aufgelöst wird und erst dadurch als Thema erkennbar wird, oder, wie bei Roy Lichtenstein, die Zusammensetzung einer Oberfläche als aus einzelnen Punktelementen bestehend ausgewiesen wird, die wiederum flächige und somit oberflächige Konsistenz besitzen. Zum anderen und eben auch deswegen entsteht die Bedeutung einer Oberfläche auch aus ihrer sinnlichen Qualität. Diese sinnliche Qualität wiederum ergibt sich aus der begrenzenden Funktion von Oberfläche. Eine Funktion, die Kommunikation erst möglich macht, indem sie bestimmt, wie sich ein System durch Abgrenzung definiert. So, dass Differenz zu anderen Systemen und der Umwelt möglich wird. Die Differenz, die Austausch nötig werden lässt und als Qualität begreifbar macht. Ähnlich wie die menschliche Haut durch Diffundieren, Austausch mit der Umwelt, Atmung etc. sowohl die Physischen Grenzen eines Individuums als auch dessen physischen Kontakt mit der Außenwelt bestimmt und bestimmbar macht. Die sichtbare Oberfläche wird also auch von der Materialqualität bestimmt. Und somit auch der erste, der sichtbare Eindruck, einer Form, der Oberfläche eines Systems. Oberfläche als Visualisierungsmetapher , als Metapher für das Aufladen mit Bedeutung der Signifikanten. Man wird allerdings den Arbeiten von Pedrotti nicht gerecht, wenn man sagt: Die Oberfläche wird als Metapher verwendet. Vielmehr werden in seinen Arbeiten Weisen der Verwendung von Oberflächen als Metapher in Kunst- und Sozialgeschichten zum Thema gemacht. Ein Thema, das Geschichten überflüssig macht. Dies deshalb, weil die Arbeiten zeigen, dass es keine Metasprache gibt. Weil sie zeigen, dass Geschichten aus dem Verhältnis von Bezeichnung und Objekt - oder sichtbare Oberfläche - und somit aus der Distanz eines Bezeichnungsverhältnisses und der Suche des Zuschauers, des Rezipienten und auch der Bezeichnungen selbst nach einem Korrelat zu den Bezeichnungen entstehen. Die Bezeichnung quasi als Stellvertreter der Vorstellung, welche wiederum aus Kunst- und Sozialgeschichten, mithin Zivilisationsgeschichten, entsteht.

Was aber ist, wenn all das bisher Formulierte nicht stimmt? Das macht nichts, es muß nicht stimmen. Die Qualität von Pedrottis Kunst liegt in der Thematisierung von Fragwürdigkeiten. Es ist ja ein Merkmal der Haut, dass hier das Fragen beginnt. An der Haut beginnen die Fragen, die Versuche, etwas über den Inhalt der Oberfläche zu erfahren. Deshalb ist die Verwendung von Latex als Material auch der Beginn eines Fragenkataloges zur Entstehung von Kunst- und Sozialgeschichten, den Pedrotti hier aufschlägt. Denn es ist ein Material, das von seiner Zusammensetzung und Herkunft absolut natürlich ist. Und dennoch den Eindruck einer absoluten Künstlichkeit erweckt, vor allem auch deshalb, weil es meist dazu verwendet wird, Hautoberflächen (natürliche) zu bedecken und Natürlichkeit künstlich herzustellen oder auch zu verhindern. Diese diffuse Ontologie der Diffusionskonsistenz lässt Zivilisationsgeschichten als Geschichten einer natürlichen Künstlichkeit und einer künstlichen Natürlichkeit erscheinen.

KatalogText, Franz Niegelhell