Die Kunstform Wasser
Denk- und Wahrnehmungsstrukturen in einem liquiden Material
 
 


Erschienen unter anderem in den LICHTUNGEN.
http://www.lichtungen.at/archiv_detail.asp?heft=32&;jahr=2006

Unter den zahlreichen Konzepten und Projekten, die Günther Pedrotti in den letzten Jahren ausgeführt hat, rückt eine Konstante in den Vordergrund: die – zunächst noch ungenau formulierte – Bewegung. Diese Verabschiedung vom statischen Kunstwerk fußt auf mehreren Entscheidungsgrundlagen, unter denen die (geistige) Enge des White Cube eine der einflussreichsten zu sein scheint. Das bedeutet nicht, dass Pedrotti nicht in Galerien ausstellt – jedoch nur dann, wenn seine nicht selten kühnen Konstruktionen, seine Verbindungsschläuche und mechanischen Netzwerke Eingang finden können. Komplexer wird das Bezugssystem, wenn wir uns dem in seinem Werk dominierenden Medium der Bewegung, das sowohl konzeptiv wie auch philosophisch mehrfach untermauert ist, dem Wasser, zuwenden. Hier liegen Indoor- wie auch Outdoor-Versionen vor. Vorweg müssen wir „Wasserkunstwerke“, die nicht nur in Form von Brunnen vorliegen, aus dem methodischen Annäherungsverfahren und damit auch als Orientierungsparameter ausklammern. Warum dies der Fall ist, lässt sich rasch beweisen: Das Fließen des Wassers dient Pedrottis Kunstauffassung nicht als spektakulärer optischer Augenschmaus, sondern als eine Art von Systemparadigma. An zwei Beispielen ist diese Behauptung vorweg schlüssig festzumachen – an den Wasserbetriebenen Uhren (1994) oder an der Säule des Pilotprojekts Scala Liquid (Füllstandsmesser) der Berliner Gropiusstadt (2002).

Auch wenn das Wasser in unterschiedlicher Form als konstituierendes Element auftritt, wird es in diesen beiden Werken im Sinne einer Funktion eingesetzt. Bei den Uhren übernimmt es die Rolle mechanischer, elektrischer oder digitaler Antriebe zur Zeitmessung und präsentiert sich in Verbindung mit bewusst verwendeten Alltagsmaterialien – Standardgartenschlauch mit Steckverbindungen, transparente, zum Zeitanzeigekreis geformte Rohre, Lego-Bausteine – als „aufgedecktes“ System. Im Mittelpunkt dieser Objekte stehen sowohl pragmatische als auch metaphorische Implikationen: Die Bewegung des Wassers wie in geläufigen traditionellen Bereichen – Mühlrad, Generator etc. – nutzend, das Fließen der Zeit als Theorie und Praxis des menschlichen Lebens spielerisch vor Augen führend. Freilich fehlt in dieser zur Dichotomie quasi geschrumpften Analyse noch die nicht zu vernachlässigende Ebene der Reflexion, die zwar die Systemtheorie mit einbezieht, weit wichtiger jedoch, im Funktionieren dieses eingesetzten, für den Anlass außergewöhnlichen Systems den Blick auf die steigende Bedeutung von Systemen mitthematisiert, die unser subjektives wie gesamtgesellschaftliches Umfeld bestimmen.

Von diesen gezielt im Stil eines Bastlers realisierten Objekten führt uns Pedrotti in einem exemplarischen Schritt in das offene und wohl auch öffentliche Areal der vieldiskutierten Gropiussiedlung. Der dort aufwändig, jedoch im Prinzip im Low-Tech-Verfahren errichtete Füllstandsmesser steht vor einem der Hochhäuser. Das mehrere Meter hohe, mit Wasser gefüllte Plexiglasrohr weist einen jeweils unterschiedlichen Wasserstand auf, der an die Anzahl der Bewohner, die das Haus betreten oder verlassen, gekoppelt ist. Ermöglicht wird diese Anzeige durch einen Bewegungsmelder und eine elektronische Steuerung, die Wasser entsprechend in die Rohre hinein oder heraus pumpt. Erst recht weil in dieser Scala liquid das Unschärfemoment eine gewisse Rolle spielt, „die Höhe der Wassersäule ist aber keine Abbildung (Skala) für die Anzahl der Bewohner im Haus, da es durch Begegnungen im Eingangsbereich zu einer ‚Verwässerung’, also zu einer Unschärfe der Messungen kommen wird“ (Pedrotti), tritt das Objekt in einen Dialog mit seiner Umgebung ein. Dieser wichtige Fakt befindet sich auf der Ebene eines stringenten Paradigmenwechsels innerhalb der Kunst im öffentlichen Raum. Es wird kein solitäres Kunstwerk aufgestellt, das als „Aufputz“ für das gleichförmige Architekturensemble, für die sterile Siedlung fungiert. Auch gibt sich die „Skulptur“ mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sofort und nicht für Jeden/Jede als künstlerische Intervention zu erkennen. Ihr ästhetischer Status ist nicht weit von einem standardisierten Messgerät entfernt und führt in Richtung jener Zeichensetzungen, bei denen die Differenzschwelle zwischen Kunst- und Alltagsobjekt zweifellos einen liquiden Status besitzt. Dieser wird gestern wie heute von einem großen Kreis von Passant/innen, von Bewohner/innen als Manko empfunden. Was in dem einen oder anderen vergleichbaren Beispiel das Pendel auf der Rezeptionsebene zugunsten einer höheren Akzeptanz ausschlagen lässt, beruht in einzelnen Fällen auf der „Funktion“ des Werks bzw. auf der Interaktion. Bemerkt das Publikum, dass es eine Aktion auslösen kann, steht es im wahrsten Sinn des Wortes der Kunst nicht nur – ob ratlos oder nicht – gegenüber. Der Füllstandsmesser, das führt wieder auf die Verschränkung der Systeme zurück, zeigt zwar Anwesenheiten und Abwesenheiten sowie Begegnungen an, er markiert aber ebenso die Grenze zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Wenngleich in der Privatheit die Anonymität gewahrt bleibt, ist der Gegensatz zum Raum, der in die Öffentlichkeit führt, evident. Dass Pedrottis Objekt nur in der Nähe von Wohnmaschinen seine volle Bedeutung erlangt, hängt wohl auch damit zusammen, dass die uniformierte Architektur den Gedanken an Subjektives, Persönliches a priori zu verdrängen scheint. Unter diesen Aspekten ist diese Installation tatsächlich in den öffentlichen Raum integriert, sie affirmiert und möbliert ihn nicht, sie ist ein Messgerät für ausgelöste unterschiedliche „Befindlichkeiten“ innerhalb einer mit rund 37 000 Einwohnern nicht gerade kleinen Teilsozietät.

Mit Schifffahrt gegen den Strom, der 2006 realisierten Kunst-Intervention im steirischen Schönegg bei Pöllau, finden ein Terrain- und teilweise auch ein Methodenwechsel statt. Nun tritt im weiteren Sinn die Landschaft als Handlungsraum auf, im engeren ist es ein Teil des betonierten Flussbetts, in dem der „Werkbach“ die Straße entlang fließt. Diesen extremen Fokus auf ein Detail vorab zu erwähnen, ist deshalb wichtig, da zunächst mit Fug und Recht behauptet werden kann, Günther Pedrotti würde sich in diesem Projekt der Land Art zuwenden. Diese ist aber bekanntlich unter anderem durch die Größe der Dimensionen, mit denen es die Künstler aufnehmen, charakterisiert, wogegen hier ganze 14 Meter „bearbeitet“ werden. Im vorliegendenkünstlerischen Konzept liegt der Schwerpunkt im Vergleich zu den vorhin genannten Projekten nun auf der pointierten Affinität zu wissenschaftlichen Versuchsanordnungen, um – wie in diesem Fall – scheinbar fixe Regelkreise der Naturgesetzlichkeit aufzubrechen: Das Wasser ändert in einem definierten Abschnitt seine Fließrichtung. Werkzeug und Material der erweiterten Skulptur sind zwei Rohre, die nach exakten Vermessungsarbeiten des Gefälles vor Ort, nach simulierten Strömungsbedingungen im für diesen Zweck eingerichteten, mit Pumpen ausgestatteten Minilabor im Wiener Atelier, in das Bachbett verlegt werden und in einer Art Schleife das Wasser zur zwischenzeitlichen Umkehr zwingen. Dieser vergleichsweise minimale Eingriff konzentriert sich exakt auf die vorgefundene Situation. Er bezieht die Höhenlinien der Landschaft mit ein, er wählt sorgfältig das am besten geeignete Teilstück aus, er führt zu einem spektakulären Ergebnis, ohne dass ein weithin sichtbares Zeichen einen kulturellen Widerpart zu den natürlichen, wenngleich vor geraumer Zeit durch Ableitung in eine Rinne künstlich veränderten, Bedingungen bildet. Auf diese Weise bleibt die vorgegebene Konfiguration erhalten, lediglich standardisierte plastische Elemente werden temporär integriert. Mit diesem über-flüssigen Implantat, das Bestehendes nicht ersetzt, sondern ergänzt, wird der für die Kunst im öffentlichen Raum seit langem bestimmende Begriff der Site Specifity liquid. Was hier am „Werksbach“ in Schönegg demonstriert wird, kann an vielen anderen Orten stattfinden, handelt es sich doch um ein die Dimensionen der physikalischen Gesetzmäßigkeiten aufhebendes Phänomen. Entscheidend dabei ist, dass es sich im Unterschied zu großen und gigantomanen, von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen bestimmten, zum Teil auf die Energieversorgung oder die kommerzielle Ausbeutung bzw. das Fruchtbarmachen von Landstrichen gerichteten Projekten um eine Umorientierung innerhalb des geistigen Weltbilds handelt. Nicht die Ebene des Tricks, das Wasser von „unten“ nach „oben“ fließen zu lassen, steht im Vordergrund der Installation, es ist die prinzipielle Möglichkeit, es ist die Projektion, die Umkehr des „Laufs der Dinge“ funktionstüchtig sichtbar machen zu wollen. Naturgemäß sind keine praktischen Auswirkungen im Sinne einer Grundlagenforschung mit dieser Anordnung verbunden, sehr wohl aber eine Reihe von kulturellen und kulturphilosophischen Konnotationen. Dieses gegen jede Erfahrung Zurück zum Ursprung wäre im konkreten Fall mit Hilfe hochtechnisierter Verfahren theoretisch über die gesamte Länge des Wasserlaufs vorstellbar. Applaus käme möglicherweise für die Ingenieurleistung, auf der Strecke aber würde die netzartige Verknüpfung der Ideen bleiben, die sich am exemplarischen Interventionspunkt entzünden: Richtung und Gegenrichtung in der Skulptur unmittelbar zu erleben; der zweimalige Durchlauf des Wassers an einem bestimmten Abschnitt des Fließens; die, wenn auch nur minimale, Zeitverzögerung, die zu einer sich über die Mündung hinaus fortsetzenden „Verspätung“ führt, mitzudenken. Unter den Vorzeichen dieser ergänzbaren Assoziationsketten, die nicht auf ein maschinelles Verfahren zu begrenzen sind, liefert eine avancierte Kunst wieder einmal den Beweis ab, als Auslösefaktor für großflächige Zusammenhänge zu dienen. Sie kristallisieren sich über das Konzept des Eingriffs aus, sie sind nicht mehr unwiderruflich an die Ästhetik des Objekts gebunden.
Die gewählten Beispiele belegen, in welcher Variationsbreite sich Günther Pedrotti mit dem Wasser als Kunstmaterial auseinandersetzt. Schläuche, Röhren, Pumpen und andere Steuerungselemente sind für ihn lediglich Instrumente, um den aus der Natur gegriffenen Werkstoff in jene prozesshafte Form zu bringen, die es ihm erlaubt, damit künstlerisch, aufmerksam für entscheidende Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, arbeiten zu können.